Kultureller Kippschalter
Der Umgang mit Zuwanderern ist
vor allem eine Frage der Haltung
Ihr Land hat sich verändert: So haben das viele Deutsche im vergangenen Jahr erlebt. Doch wie anders ist Deutschland wirklich geworden? Und wie stellen wir uns auf die Veränderungen und die Menschen ein, die zu uns kommen? Auf diese Fragen hat die Ethnologin Sandra de Vries eine Antwort. In Paderborn vermittelt sie ihr Wissen an Eltern, die einen unbegleiteten jugendlichen Flüchtling aufnehmen wollen.
Die niederländische, in Münster lebende Wissenschaftlerin hat in jahrelangen Auslandsaufenthalten die islamische Kultur intensiv kennen gelernt. Ihre Kenntnisse gibt sie seit 2009 als „Trainerin für interkulturelle Kommunikation“ an soziale Träger, Einrichtungen und Behörden weiter. Der Sozialdienst katholischer Frauen (SkF) in Paderborn ist einer ihrer Auftraggeberinnen. Der SkF-Bereich „Westfälische Pflegefamilien“ betreut seit einigen Wochen Familien, die einen unbegleiteten jugendlichen Flüchtling aufnehmen.
Die zukünftigen Eltern erhalten eine gründliche Vorbereitung für ihre Aufgabe. Dazu gehören Vorträge und ein Workshop mit der Expertin Sandra de Vries. Manchmal fällt es auch den motivierten, lernbereiten Kursteilnehmern nicht leicht, die Einsichten der Fachfrau zu akzeptieren: Das Zusammenleben mit Menschen aus einer anderen Kultur bedeutet, eigene, liebgewonnene Gewissheiten und Gewohnheiten aufzugeben.
Das beginnt mit dem grundlegenden sozialen Verständnis. Westeuropäer leben in einer „Ich-Gesellschaft“, die Selbstverwirklichung und Individualität betont. Viele Flüchtlinge stammen dagegen aus einer „Wir-Gesellschaft“, die geprägt ist von Großfamilien: Alter, Erfahrung, die Berufung auf die Ahnen zählen. In diesen konservativ geprägten Großverbünden werden „Abweichungen“ wie Homosexualität nicht geduldet. Die „Vermittlungssysteme“ in Schule und Beruf sind anders. „Learning by doing“ spielt eine viel wichtiger Rolle als bei uns.
Selbst der Begriff „Kind“ ist relativ. Oft treten sie mit der Geschlechtsreife, also im Alter von neun bis dreizehn Jahren, in das Erwachsenenalter ein. Viele Jugendliche, die zu uns kommen, gelten in ihrer Heimat als erwachsene Männer, die Verantwortung für ihre Familie tragen. Auch das ist eine wichtige Erkenntnis für die Pflegefamilien.
Um mit der Verschiedenheit umzugehen, empfiehlt Sandra de Vries einen kulturellen „Kippschalter“: Mal nach den Regeln der eigenen, dann nach den Regeln der fremden Kultur zu handeln. Wer versucht, eine Assimilation, also eine Angleichung an unsere Werte zu erzwingen, wird scheitern. Das legt der Vortrag von Sandra de Vries nahe.
Dennoch kann das Zusammenleben und die Integration funktionieren, glaubt die Ethnologin. Sie selbst hat das während ihrer langen Auslandsaufenthalte erlebt. „Die Zeit macht´s“, sagt sie. Deutschland ist dafür ein gutes Beispiel. Jeder zweite Deutsche hat einen Migrationshintergrund. Die größte Zuwanderung erlebte das Land nach dem Zweiten Weltkrieg – und davon spricht heute niemand mehr.